kruess_james_timm_thaler_oder_das_verkau fte_lachen(1) (857789), страница 32
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Aber bevor derDirektor sein Willkommen auch aussprechen konnte, legte der Baroneinen Finger auf die Lippen: „Bitte, kein Aufsehen! Wir sindinkognito hier. Mister Brown und Sohn, Kaufmann aus London.“Die Direktorenarme fielen herunter. Der Mann machte einekorrekte Verbeugung: „As you like it, Mister Brown! Your bagage isalready here!“Timm fand das Ganze ungeheuer belustigend. Er hätte jetzt denDirektor umarmen mögen, so sehr hatte ein kleiner Zettel die ganzeWelt für ihn mit einem Schlage verändert.Aber Timm umarmte niemanden, er lachte auch nicht.
Wie sollteer auch? Er sagte ernst und höflich, wie es ihm in langen traurigenJahren zur Gewohnheit geworden war: „Thank you very much!“Neunundzwanzigster BogenVergessene GesichterWährend der Weltreise hatte Timm sich an die ständige Beschattungdurch Detektive gewöhnt. Die Leute hatten ihre Aufgabe unauffälligund zurückhaltend erfüllt.
Einige Male hatte der Junge die beidenHerren aus Genua wiedererkannt. Beunruhigt hatten sie ihn niemehr, da er auf der Reise den gehorsamen Begleiter Lefuets gespielthatte.Jetzt aber, mit dem kostbaren Zettel in der Jackett-Tasche,witterte Tim hinter jeder Vorhangfalte einen Detektiv. Er wagtenicht, den Zettel herauszunehmen und zu lesen. Auch ließ JonnysMaskerade und seine gespielte Zurückhaltung vermuten, daß TimmsFreunde genau so beschattet würden wie er selber.Schließlich – der Baron hatte sich für eine Stunde niedergelegt –ging der Junge in das Bad, das zu seinem Appartement gehörte,riegelte hinter sich ab, setzte sich auf die Kante der blaugekacheltenWanne und zog hier den Zettel aus der Tasche.Das Papierchen war nicht größer, als vier Briefmarken sind. EineSeite war mit einer winzigen Schrift bedeckt.
Aber diese Schriftkonnte der Junge mit bloßem Auge nicht lesen. Er brauchte eineLupe.Wie aber kam Timm zu einer Lupe? Während er den Zettelwieder in die Tasche steckte, überlegte er: Wenn er von einemHotelangestellten eine Lupe erbat, würden es die Detektive erfahren.Wenn er eine kaufte, würde der Detektiv im Laden fragen, was derJunge gekauft habe. Wie also unauffällig zu einer Lupe kommen?Timm hörte, wie jemand klopfte und anscheinend seinAppartement betrat. Er glaubte, es sei Lefuet, ließ vorsichtshalberdas Spülwasser der Toilette rauschen, ließ den Riegel der Türmöglichst leise zurückschnappen und ging in den Salon zurück.In diesem Salon stand ein runder Tisch mit vier Sesseln. In demSessel, der Timm beim Eintreten genau gegenüber stand, hocktevornübergebeugt eine ältere, stark geschminkte Frau, die sichlächerlich bunt und jung gekleidet hatte.
Die etwas strohigen Haarewaren zu Löckchen gerollt. Im Sessel neben ihr saß ein blasser,langaufgeschossener Jüngling, der statt einer Krawatte eine grellbunte, übermäßig lange Fliege trug. Timm war es plötzlich, als röchedas Zimmer nach Pfeffer, Kümmel und Anis.Mit der Stiefmutter und Erwin hatten die beiden Besucher nurentfernte Ähnlichkeit. Aber sie waren es.Timm stand stumm in der Tür. Auf diese Gesichter war er nichtgefaßt gewesen.
Er hatte nur einen Atemzug lang gebraucht, um siewiederzuerkennen. Aber es brauchte einige Zeit, ehe er aus denveränderten Gesichtern die alten Züge hervortreten sah. Und da saher zum erstenmal in seinem Leben, daß es dumme Gesichter waren.Er hörte seinen Vater sagen: „Verachte die Dummheit, wenn sienicht gutmütig ist.“ Er sah jetzt, was er als kleiner Junge nur dumpfund unklar geahnt hatte. Er begriff, daß sein Vater die beiden da vorihm durchschaut hatte.
Er begriff auch, daß er als Kind sein Lachenbewahrt hatte, weil es den Vater gab.Timms Augen waren feucht geworden, nicht vor Rührung,sondern vor erstauntem Starren. Das Gesicht der Stiefmutterverschwamm, und das Gesicht der Spenderin seines Lachens schobsich davor: das Gesicht seiner Mutter. Schwarze Haare undglänzende schwarze Augensterne, eine haselnußbraune Hautfarbeund Kringel in den Mundwinkeln.Und auch das begriff Timm in diesem Augenblick: daß seineZuneigung zu den Bildern des Palazzo Candido in Genua einWiedererkennen gewesen war.
Aus jedem der italienischen Portraitshatte ihn das Gesicht seiner Mutter angeblickt. Jedes dieser Bilderwar das Gesicht seiner Herkunft und – hoffentlich – auch das seinerZukunft.Die Stiefmutter war bei Timms Erscheinen in die Höhegeschnellt, auf den Jungen zugestöckelt und ihm ganz einfach umden Hals gefallen. Timm – von Erinnerungen an seine Mutterüberschwemmt – hätte fast in einer Verwirrung seiner Gefühle dieStiefmutter umarmt. Aber er war nicht mehr der arme kleine Junge.Er hatte gelernt, Unbegreiflichkeiten und Verworrenheiten zumeistern. Er schob die Stiefmutter sanft und schweigend von sich.Und sie ließ es geschehen.
Sie schluchzte ein bißchen, trippelte zumTisch, auf dem ihre Handtasche lag, nestelte ein Taschentuch herausund betupfte sich die falschen Augenwimpern.Erwin war nun auch aufgestanden. Er schlenkerte auf seinenStiefbruder zu, gab ihm eine sehr weiche Hand und sagte: „Tag,Timm!“„Tag, Erwin!“Mehr konnten sie einstweilen nicht sagen; denn die Tür wurdeaufgerissen, und der Baron kam atemlos ins Zimmer.„Was sind das für Leute?“Natürlich ahnte der Baron, um wen es sich handelte; und Timmwußte das. Dennoch stellte er seine ungebetenen Gäste höflich vor:„Darf ich Sie mit meiner Stiefmutter, Frau Thaler,bekanntmachen, Baron? Der junge Herr ist mein Stiefbruder Erwin.“Dann stellte er, betont förmlich und mit der eingelerntenhübschen Handbewegung, seinen Widersacher vor: „Baron Lefuet!“Die Stiefmutter hob ihre rechte Hand bis beinahe unter das KinnLefuets (anscheinend erwartete sie einen Handkuß) und zwitscherte:„Sehr angenehm, Herr Baron!“Lefuet ließ die Hand unbeachtet.„Spielen wir kein Theater, Frau Thaler! Damit haben Sie, wie esscheint, sowieso kein Glück gehabt.“Die Stiefmutter, die schon den Mund geöffnet hatte, um demBaron aufgeregt zu antworten, änderte plötzlich ihre Taktik.
Siewandte sich Timm zu, betrachtete ihn mit süßem Entzücken imsäuerlichen Gesicht, trat einen Schritt zurück und sagte: „Du siehstwie ein richtiger Herr von Welt aus, mein Junge! Ich bin sehr stolzauf dich. In den Zeitungen haben wir alles über dich gelesen, nichtwahr, Erwin?“Ihr Sohn murmelte – mit deutlichem Unbehagen – eine Art „mja“.Das Verhältnis zu seiner Mutter schien immer noch dasselbe zu sein.Verwöhnt und verhätschelt von ihr und an sie gefesselt, weil erunfähig war, seine Wünsche ans Leben allein zu befriedigen, wardiese Frau ihm gleichwohl peinlich in Gegenwart anderer. Er nutzteihre Affenliebe aus; aber er ertrug sie schwer.Timm war jetzt froh, daß die Stiefmutter ihn von dieser Liebeausgeschlossen hatte. Sie hätte seine Kraft gebrochen; sie hätte ihnaußerstande gesetzt, widerstandsfähig zu bleiben in der Hölle derverflossenen Jahre.Timm war diese Begegnung so nützlich wie notwendig.
Wiedereinmal erkannte er, daß er einen Kreis durchlaufen hatte und wiederam Ausgangspunkt angekommen war, aber um einige Drehungenhöher. Von der Gassenwohnung bis hierher hatte er auf gewundenenWegen einen Berg erstiegen, und nun sah er den Anfang des Wegestief unter sich. Und er sah, daß seine Stiefmutter und Erwin immernoch an derselben Stelle standen und keinen Schrittweitergekommen waren. Obwohl sie hier im Appartement des Hotels„Vier Jahreszeiten“ dicht neben ihm standen, waren sie so fern vonihm, daß er kaum ihre Stimmen hörte.Die Stiefmutter sagte gerade: „Wir werden jetzt immer bei dirbleiben und für dich sorgen, Timm.
Du bist ja der reguläre Erbe desGanzen, und morgen wirst du sechzehn und…“„… und keineswegs volljährig!“ belehrte sie der Baron.Frau Thaler wandte mit einem Ruck den Kopf. In ihre Augen kamdas falsche Feuer, das man „hektischen Glanz“ nennt und an dasTimm sich gut erinnerte. (Aber er erinnerte sich daran wie an dasfeuchte Glänzen von Kuhaugen, die man einmal gefürchtet hat unddie man beim Wiedererkennen ein bißchen dumm und völligungefährlich findet. „Wie dumm, unter der Dummheit zu leiden“,dachte Timm heute.)Lefuet erklärte jetzt mit belustigt zuckendem Munde, warumTimm mit seinem sechzehnten Jahr noch nicht volljährig sei: „Indiesem Lande, Frau Thaler, wird der Mann erst mit einundzwanzigJahren mündig, kommt also dann erst in den vollen Genuß einerErbschaft.
Sie haben vermutlich erfahren, daß ich dieStaatsbürgerschaft eines Landes besitze, in dem der Mann mitsechzehn Jahren volljährig wird; aber das hat nichts mit IhremStiefsohn Timm zu tun. Er untersteht nach wie vor den Gesetzendieses Landes. Erst wenn er einundzwanzig ist, kann er die Erbschaftregulär antreten.“Die Stiefmutter hatte den Baron mit keinem Wort unterbrochen.Nur ihre Lider hatten ein wenig geflattert, und eine Hand hatteunruhig mit dem Taschentuch gespielt. Sie wandte sich jetzt wiederan ihren Stiefsohn und fragte mit mühsam unterdrückter Aufregung:„Hast du denn nicht die Staatsbürgerschaft des Barons?“Timm, der sie ohne Teilnahme gemustert hatte, hörte ihre Fragenicht, weil er in Gedanken war. Er bemerkte nur, daß sie irgendetwas gesagt hatte. Um nicht unhöflich zu sein, zeigte er nun auf dieSessel.„Setzen wir uns doch, dann redet es sich besser.“Schweigend verteilte man sich um den Tisch.Timm schlug ein Bein über das andere und sagte: „Ich habe nochnie darüber nachgedacht, wer jetzt eigentlich mein Vormund ist.
Alsder Baron…“ (er machte eine kurze Pause) „… starb, hieß es, derneue Baron sei mein Vormund. Erst jetzt fällt mir ein, daß meineStiefmutter dazu ihre Einwilligung geben mußte. Ist das geschehen,oder…“Frau Thaler wirkte plötzlich hilflos. Sie murmelte: „Weißt du,Timm, es ging uns nicht gut, als du fort warst. Wir hatten viel Pech,und da…“„… da hat Frau Thaler mir die Vormundschaft schriftlieh undamtlich übertragen“, ergänzte Lefuet für Timm. „Gegen einenansehnlichen Betrag, den sie für den Kauf eines Variete-Theatersverwendet hat. Und dieses Theater scheint pleite gegangen zu sein.“„Aber das lag nicht an mir, sondern an den Zeitumständen“,schluchzte Frau Thaler, und dann begann sie wieder ihr altesatemloses Geplapper:„Ichweißja,daßgerichtlichallesinordnungist,abereristdochmein Kind,undwirsitzendochjetztaufderstrasse,meinsohnundich,und…“Diesmal unterbrach Timm sie.