kruess_james_timm_thaler_oder_das_verkau fte_lachen(1) (857789), страница 36
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Er hatte einige Prellungen davongetragen undeine leichte Gehirnerschütterung. Man verordnete leichte Kost undBettruhe für einige Tage. Außerdem wurde ihm geraten, möglichstkeine Besuche zu empfangen.Trotzdem erhielt Lefuet noch am selben Tage merkwürdigenBesuch.
Es war ein kleiner mickriger Mann mit Nickelbrille. Er hatteein zerknittertes Gesicht und einen zerknitterten Anzug. DieStationsschwester wunderte sich, daß ihr Patient, der ein feiner Herrzu sein schien, mit solchen Leuten verkehrte.Lefuet stellte dem Mann ein paar Fragen und gab einigeAnweisungen.„Haben Sie den Jungen seit der Geschichte auf dem Rennplatzwiedergesehen?“„Nein, Herr Baron.“„Leiser, mein Lieber! Ich bin Mister Brown.“„Jawohl, Herr… Mister Brown.
Ich wollte Ihnen noch sagen, daßich den Jungen von Zeitungsbildern kenne.“„Das ist wenigstens etwas. Aber sehen Sie ihn sich trotzdem nocheinmal an, wenn’s möglich ist. Aber unauffällig.Möglicherweise erkennt er Sie wieder. Die Nickelbrille verändertSie kaum.“„Jawohl, Herr… Brown.“„Also nochmals, mein Lieber: Äußerste Zurückhaltung! Er darfnicht merken, daß ihn außer unseren Hausdetektiven noch jemandbeschattet. Klar?“„Jawohl.“„Eine andere Frage…“„Bitte sehr, Mister Brown?“„Es ist eine mehr private Frage: Kennen Sie das MärchenSchwan-Kleb-An?“„Na und ob! Das mußte ich mir doch ansehen, als ich den Jungenvor zwei Jahren hier in Hamburg beobachtet habe, Herr Ba… rown.Da ist er doch mit diesen Rickerts ins Marionettentheater gegangen.Und das Stück hieß Schwan-Kleb-An.“„Ah so! Das erklärt einiges.“ Der Baron schloß für einen Momentdie Augen.
Er sah sich selbst im Taxi sitzen, Timm neben sich, under hörte den Fahrer sagen: „Das ging aber mal schnell. Fast soschnell wie bei Schwan-Kleb-An.“ Dann sah der Baron TimmsGesicht vor sich. Erst zuckte es, dann wurde es steinern. Vor dieErregung wurde ein Vorhang gezogen. (Lefuet kannte das längst.)Jetzt wußte er, warum der Fahrer Schwan-Kleb-An erwähnt hatte.Und als er sich von dem Mann mit der Nickelbrille das Märchenerzählen ließ, wußte er noch viel mehr.ZuLefuetserstaunlichstenTalentengehörteeinZahlengedächtnis, das ihn selten in Stich ließ.
Es bediente ihn auchdiesmal mit der Nummer des Taxis, die er auf ein abgerissenes StückZeitungspapier schrieb.Das Papier gab er dem Besucher. „Wenn der Junge in ein Taximit dieser Nummer steigt, will ich sofort benachrichtigt werden.Fragen Sie die Schwester nach meiner Telefonnummer, undschreiben Sie sie darunter, klar?“„Jawohl, Mister Brown!“„Mein Chauffeur soll mit fahrbereitem Wagen vor demKrankenhaus warten. Benachrichtigen Sie ihn. Er soll sich einenMietwagen nehmen. Auf keinen Fall ein Firmenauto. Und Sie rufenmich auf der Stelle an, wenn der Junge in das angegebene Taxisteigt.
Auf – der – Stel – le! Es könnte um Minuten gehen.“„Jawohl.“„Dann können Sie gehen.“Der Mann wandte sich der Tür zu, aber Lefuet hielt ihn nocheinmal zurück. „Die Leute scheinen verkleidet zu arbeiten. Könntesein, daß sich auch der Junge verkleidet. Ich erwähne dassicherheitshalber.“„Ist gut, Baron… Brown.“Der Mann ging. Lefuet erhob sich, hinkte zur Tür, schloß sie leiseab, kleidete sich bis auf die Schuhe vollständig an, schloß leise dieTür wieder auf und legte sich im Anzug ins Bett zurück, als dasTelefon läutete. Es war Timm Thaler.„Wie geht es Ihnen, Baron?“Lefuet stöhnte: „Miserabel, Herr Thaler! Brüche und eine schwereGehirnerschütterung.
Ich kann mich kaum bewegen.“ Er lauschte mitangehaltenem Atem in den Hörer. Aber er hörte nichts als die ruhigeStimme des jungen Mannes: „Dann will ich Sie nicht längeranstrengen. Gute Besserung, Baron, und seien Sie vorsichtig!“„Darauf können Sie sich verlassen, Herr Thaler!“Behutsam legte Lefuet den Hörer in die Gabel zurück. Dannlehnte er sich gegen die Kissen und blickte aus dem Fenster hinaus.Draußen umspielten zwei Schwalben einander im Fluge.„Lachen“, dachte Lefuet, „ist ein Vogel. Aber ein Vogel, derniemandem ins Netz geht.
Ein Vogel, den man nicht fangen kann.“Laut setzte er hinzu: „Und niemand soll mich fangen können!“Zweiunddreißigster BogenHintertreppenTimms Appartement lag auf der Rückseite des Hotels. So hatte erden Schrei des verunglückten Barons nicht hören können. Er war inder allgemeinen Verwirrung auch erst sehr spät von dem Unfallunterrichtet worden. Nach dem kurzen Telefongespräch mit Lefuetüberkam ihn so ein Gefühl, als ob auch dieser VerkehrsunfallHintertreppen-Romantik sei – wie alles an diesem Tage.
Er schämtesich dieses Gefühls, wenn er an den scheinbar so schwerkrankenBaron dachte; aber er konnte nicht hindern, daß es sein Mitleid fastverdrängte.Auch Timms nächster Schritt war Hintertreppen-Romantik. Wasder geheimnisvolle Zettel empfohlen hatte („Wähle Hintertreppen!“)und was Lefuet vermutet hatte („Könnte sein, daß sich auch derJunge verkleidet.“), das zu tun, bereitete Timm sich jetzt vor. Dabeikam ihm zustatten, daß der Baron ihn im letzten Jahr reichlicher mitTaschengeld versehen hatte als vorher.Timm läutete dem Zimmermädchen und bot ihr dreihundert Markfür den Fall, daß sie ihm bald und heimlich gebrauchteSchifferkleidung besorge: eine blaue Tuchhose, einen dunkelblauenRollkragenpullover und eine Schirmmütze.Das Mädchen – wahrscheinlich las sie Groschenromane – fandden geheimnisvollen Auftrag prickelnd und spannend.
Sie sagte, siehabe einen Verehrer bei der christlichen Seefahrt, den sie um achtUhr treffen werde. Von dem könne sie die Sachen bekommen.„Gut“, sagte Timm. „Dann wickeln Sie die Sachen in frischeBettwäsche und bringen Sie sie bis neun Uhr zu mir!“„Aber Mister Brown“, sagte das Mädchen (Lefuet und Timmwaren ja als Vater und Sohn Brown hier abgestiegen), „um neun Uhrwechseln wir doch keine Bettwäsche! Höchstens ein Badetuch!“„Also dann tun Sie die Sachen meinetwegen in ein Badetuch.Hauptsache, ich bekomme sie.“„Aber was soll ich dem Herrn draußen sagen, Mister Brown?“„Welchem Herrn?“ fragte Timm.„Dem, der mir hundert Mark gegeben hat, damit ich ausspioniere,was Sie tun!“„Ah, der Herr Detektiv! Sagen Sie ihm, daß ich jetzt eineKopfschmerztablette verlangt hätte und daß Sie mich auf dieTabletten im Badezimmer aufmerksam gemacht hätten.“„Ist gut, Mister Brown!“„Und noch etwas: Wenn Sie heute abend um neun Uhr kommen,sind Sie wohl außer Dienst?“„Ja.“„Könnten Sie dann für kurze Zeit Ihre Dienstkleidung wiederanziehen?“„Das hätte ich sowieso getan, Mister Brown.
Ich habe eine zuHaus. Die ziehe ich unter dem Mantel an. Und über das Häubchenbinde ich ein Kopftuch. Dann brauche ich mich hier nicht großumzuziehen.“„Ausgezeichnet“, sagte Timm mit zwei deutlichen Kringeln inden Mundwinkeln. „Dann kann ich also bestimmt mit Ihnenrechnen?“„Ganz bestimmt, Mister Brown. Und – kann ich auch ganzbestimmt mit dem Geld rechnen?“„Sie können es jetzt schon haben!“ Der junge Mann entnahmseiner Brieftasche drei Hundertmarkscheine und gab sie ihr.„Sie sind aber leichtsinnig!“ lachte das Mädchen. „So was zahltman doch nicht im voraus. Na, ich werde Sie nicht enttäuschen.Danke schön einstweilen! Und tschüs solang!“„Bis neun!“ sagte Timm.
Dann schloß er ab und legte sich nieder.Wenn er auch nicht schlafen konnte, wollte er doch wenigstens denKörper ausruhen lassen.Kurz nach neun Uhr kam das Zimmermädchen wie verabredet.Mit schwarzem kunstseidenem Kittel und weißem Häubchen. DasBadetuch trug sie vor der Brust.„Der Herr hat mich gefragt, was ich bei Ihnen will“, flüsterte sie.„Ich habe gesagt, Sie hätten heute nachmittag für neun Uhr einfrisches Badetuch bestellt.“„Nett von Ihnen“, erwiderte Timm möglichst laut.
Dann flüsterteer: „Grüßen Sie Ihren Verehrer von der christ«liehen Seefahrt!“Diesmal antwortete das Mädchen laut: „Danke, Mister Brown!Herzlichen Dank!“ Dann verließ sie das Appartement und blinzelteTimm unter der Tür noch einmal zu. Der junge Mann blinzeltezurück.Der Verehrer des Fräuleins hatte zum Glück nicht die AusmaßeJonnys. Er schien ein kleines bißchen größer als Timm zu sein; aberdie Hose ließ sich durch Träger heraufziehen, und bei Pullovern istein lockerer Sitz ja nicht weiter schlimm.Im Spiegel kannte Timm sich – vor allem mit der Schirmmutze –kaum selbst wieder. Nur die zarte Haut seines Gesichts verriet ihn.Also wurde auch das geändert: Er rieb sich die Wangen mit demBimsstein ein, der im Badezimmer lag, und schmierte danach Erdeaus einem Blumentopf darüber.
Dann wusch er das Ganze ab undmachte das gleiche noch einmal. Und dann noch einmal und nocheinmal. Das Ergebnis war zufriedenstellend: Timm Thalers Gesichtsah aus, als habe er gerade die Masern überstanden. Von Kopf bisFuß roch der ganze Timm förmlich nach christlicher Seefahrt.Jetzt mußte er genau überlegen, was er mitnehmen sollte; dennvermutlich würde er ja in dieses Appartement nicht zurückkehren. Erwußte, daß mit seinem wiedergefundenen Lachen die Rolle desreichen Erben ausgespielt war; aber das bedrückte ihn nicht. Wasalso mitnehmen?Er entschloß sich, nur ein paar Papiere mitzunehmen, sonst nichts:seinen Paß, den Vertrag über das verkaufte Lachen, den Vertrag überden Kauf der Reederei HHD, den dritten Vertrag über den Erwerbdes Marionettentheaters und den winzigen geheimnisvollen Zettelmit der Kritzelschrift. Diese fünf Schriftstücke steckte Timm,säuberlich gefaltet, in eine geräumige Hintertasche derSeemannshose, die er sorgfältig zuknöpfte.Timm war für die wichtigste Unternehmung seines Lebensgerüstet.
(Es war mittlerweile schon fast elf Uhr geworden.) Er tatjetzt noch ein übriges, indem er rasch nacheinander drei Zigarettenrauchte. So roch er nach Tabak und bekam eine leicht heisereStimme. (Er rauchte nämlich sonst nicht, hatte für Besucher aberstets ein gefülltes Zigarettenkästchen aus Palisanderholzbereitstehen.)Nun galt es, unbemerkt von den Detektiven das Hotel zuverlassen. (Unter dem Rauchen war es elf Uhr fünfzehn geworden.)Aus einem Fenster zu klettern, wäre zu auffällig. Also blieb nur derWeg durch das Hotel. Zu diesem Zweck mußte der Detektiv auf demFlur abgelenkt werden. Timm wußte schon, auf welche Weise: Erschrieb einenkurzen Brief an den Baron, in dem er ihm gute Genesungwünschte, und läutete dem Boy.
(Es war elf Uhr dreißig.)Der Hotelpage, der erschien, war etwa in Timms Alter, wirkteaber bedeutend jünger. Er war rothaarig und hatte ein verwegenesStupsnasengesicht, was Timm nur recht sein konnte.„Würden Sie ein bißchen Theater für mich spielen, wenn ichIhnen zweihundert Mark gebe?“ (Es war Timms Taschengeld-Rest.)Der Page grinste: „Um was handelt es sich denn?“„Vor meiner Tür steht ein Detektiv…“„Weiß ich“, sagte der Knabe, immer noch grinsend.„Nun, den sollen Sie ablenken.