kruess_james_timm_thaler_oder_das_verkau fte_lachen(1) (857789), страница 8
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Und weil er nicht weinenwollte, schüttelte ihn das Schluchzen umso schlimmer, bis er sichendlich seiner Verzweiflung überließ. Da hörte das Weinen undGeschütteltwerden nach und nach auf, und nun fing dieservierzehnjährige Junge kühl und ruhig an, über seine Zukunftnachzudenken.Er beschloß, am folgenden Sonntag wieder auf einen Außenseiterzu setzen und viel Geld zu gewinnen. Das Geld sollte die Stiefmutterbekommen, und dann wollte er sie und Erwin verlassen und einfachdavonlaufen.
Vielleicht würde er Schiffsjunge werden, vielleichtetwas anderes. Um das Geld brauchte er sich keine Sorgen zumachen. Wetten kann man überall. Am Reichsein – das wußte erjetzt – hatte er ohnedies keinen Spaß. Er hatte sein Lachen verkauftfür etwas, was er gar nicht brauchte.Und nun beschloß der Junge auf der Uferbank am Fluß etwas vielWichtigeres: Er wollte sein Lachen zurückgewinnen. Er wollteseinem Lachen nachlaufen. Er wollte Herrn Lefuet suchen, woimmer auf der Welt er sein mochte.Es wäre gut gewesen, wenn Timm irgendeinen Menschen gehabthätte, meinetwegen einen betrunkenen Kutscher oder einen halbverrückten Landstreicher, dem er von seinem Entschluß hätteerzählen können.
Die schwierigsten Dinge können einfach werden,wenn man mit einem anderen Mensehen darüber spricht. Aber Timmdurfte nicht darüber sprechen. Er mußte sich zuschließen wie eineAuster. Ein Stück Papier, das jetzt im doppelten Boden der Standuhrlag, machte ihn zum einsamsten und zum traurigsten Jungen, den dieSonne beschien.Timm war ganz allein. In dieser Stimmung kam ihm der Vater inden Sinn und das ersparte Geld für den Marmorgrabstein. Und erbeschloß noch etwas: Vor seiner Flucht sollte der Vater den Steinaufs Grab bekommen.
Timm wußte, das würde Schwierigkeitenmachen. Aber durchsetzen wollte er’s.Ruhig stand er jetzt von der Bank auf. Er hatte Pläne, die erdurchführen mußte. Und die Pläne machten den Jungen stark.Achter BogenDer letzte SonntagAls der Sonntag kam – der letzte Sonntag, den Timm in seinerGeburtsstadt verbrachte – sah man der Stiefmutter schon beimFrühstück die Aufregung an. Sie hatte einen besonders starkenKaffee gekocht, den sie in gierigen Schlucken trank, und sie aß fastnichts. Timm hatte sie ein wenig mehr Geld gegeben, als er erbetenhatte.
Auch hatte sie ihr prächtigstes Staatskleid aus bestickter Seideangezogen und den Fuchspelz bereitgelegt.„Ichbingespanntobwirgewinnen“,schnattertesie.„Weißteschonaufwel – chespferddu setzt, Timm?“„Nein“, sagte der junge wahrheitsgemäß.„Ja,machstedirdennnochkeineGedanken?Kannstedenneinfachsoins Blaue wetten?“„Timm weiß schon, was er tut!“ warf Erwin ein. Die Wett-Erfolgeseines Stiefbruders erfüllten ihn mit ebenso viel Neid wie Respekt.Nach dem Frühstück fuhren die drei in einem Taxi zumRennplatz. Die Stiefmutter steuerte dort sogleich auf dieWettschalter zu.
Aber Timm sagte, er müsse sich noch ein wenigumhorchen. Das sah die Verwandtschaft ein. Timm durfte sich alleinunter die Leute mischen und ihre Gespräche belauschen.Auf dem Rennplatz war er fast vergessen, weil er ein ganzes Jahrlang nicht gewettet hatte. Aber einige Leute kannten ihn noch undzeigten flüsternd auf ihn. Besonders ein Herr mit krausem braunemHaar und merkwürdig stechenden wasserblauen Augen schien sichsehr für Timm zu interessieren. Er umkreiste den Jungen wie einHund seinen Herrn, beobachtete ihn ebenso unablässig wieunauffällig und stellte sich schließlich neben Timm, als der die Listeder Pferde studierte.„Auf Südwind scheint niemand zu setzen“, bemerkte er betontbeiläufig und ohne den Jungen dabei anzusehen.
„Willst du auchwetten?“„Ja“, sagte Timm. „Und zwar auf Südwind!“Jetzt wandte der Fremde den Kopf. „Das ist sehr kühn, meinJunge! Südwind hat so gut wie gar keine Gewinnchancen!“„Wir werden sehen“, meinte Timm.Irgendwie war ihm nach Lachen zumute. Aber er konnte nichtlachen. Ernst und ein wenig traurig sah er den Fremden an, der jetztüber Timms kühne Wettabsichten zu witzeln begann und den Jungenzum Schalter begleitete.Unterwegs scherzte der Fremde weiter. Er machte Witze über diekleinen Jockeys und beobachtete dabei genau das Gesicht desJungen. Aber Timm verzog keine Miene.Kurz vor dem Schalter blieb der Herr stehen.
Unwillkürliehverhielt auch Timm den Schritt. „Ich heiße Kreschimir“, sagte derFremde. „Ich meine es gut mit dir, mein Junge. Ich weiß, du hast aufdiesem Rennplatz noch nie eine Wette verloren. Das ist selten undzugleich seltsam. Darf ich dich etwas fragen?“Timm blickte in die wasserblauen Augen, die ihn an jemandenerinnerten. Aber er wußte nicht, an wen. Er sagte: „Bitte schön,fragen Sie!“Leise und ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, fragte HerrKreschimir: „Warum ladist du niemals, Junge? Magst du nicht? Oder– kannst du nicht?“Timm stieg das Blut zu Kopfe. Wer war dieser Mann? Was wußteer? Ihm schien mit einem Male, dieser Mann habe die AugenLefuets.
War dies der veränderte Lefuet, der Timm auf die Probestellen wollte?Der Junge hatte wohl etwas lange mit seiner Antwort gezögert;denn plötzlich sagte Herr Kreschimir: „Dein Schweigen ist beredtgenug. Vielleicht kann ich dir einmal helfen. Ich heiße Kreschimir.Vergiß das nicht. Auf Wiedersehen!“Im Gedränge der Rennplatzbesucher verschwand der Mann.Timm verlor ihn aus den Augen. Beunruhigt ging er zum Schalterund setzte alles Geld auf „Südwind“.Nach der Begegnung mit Herrn Kreschimir war er fester als jeentschlossen, spätestens morgen die Stadt zu verlassen.Seine Stiefmutter und Erwin hatten ihn am Schalter entdeckt.Offenbar hatten sie dort auf ihn gewartet.
Timm verriet diesmalnicht, auf welches Pferd er gesetzt hatte. Aber zum erstenmal sah ersich mit den beiden zusammen das Rennen an.„Südwind“ war ein ungewöhnlich temperamentvoller jungerHengst, der sein drittes Rennen lief. Man war der Meinung, dasPferd sei viel zu früh zu den Rennen zugelassen worden. Es hatte bisjetzt nur Plätze in der Mitte des Feldes erzielt. Einmal zwar war„Südwind“ bei Beginn des Rennens wie ein Pfeil an die Spitzevorgeschossen.
Aber bald war das Tier zurückgefallen und wiegewöhnlich mit dem Mittelfeld ins Ziel eingelaufen.Dies alles erfuhr Timm aus dem Gespräch zweier Herren, dieneben ihm standen. Zum erstenmal war er auf ein Rennen gespannt.Er hatte Furcht, nach dem Gespräch mit Herrn Kreschimir könnesein Vertrag mit dem karierten Herrn Lefuet ungültig sein. DasErgebnis dieses Rennens sollte ihm zeigen, ob seine Furchtbegründet war.Der Startschuß wurde gegeben.
„Südwind“ kam, als die Pferdesich eingelaufen hatten, auf den vierten Platz, den er ziemlich stetighielt. Die beiden Herren neben Timm unterhielten sich über dasPferd, das sich an die Spitze gesetzt hatte. Aber dann kamen sie auf„Südwind“ zu sprechen. Timm hörte in dem sich steigernden Lärmder Zwschauer nur Bruchstücke des Gesprächs: „… viel gelernt…“,„… spart seine Reserven…“, „… wird sich machen…“Siegesaussichten schien „Südwind“ nicht zu haben. Er hielt denvierten Platz, aber die Pferde vor ihm gewannen an Vorsprung.Erwin und die Stiefmutter drangen jetzt in Timm, ihnen zu sagen,auf welches Pferd er gesetzt habe. Aber der Junge war unsichergeworden. Ängstlich verfolgten seine Augen das Rennen.
„Südwind“schob sich jetzt kaum merklich nach vorn. Aber die Strecke bis zumZiel war nur noch kurz.Da plötzlich strauchelte das Pferd an der Spitze. Die beidenPferde dicht hinter ihm scheuten kurz und drängten sich ein wenigzur Seite. In diesem Augenblick zog „Südwind“ gradlinig in einemglänzenden Endlauf an ihnen vorbei und lief kurz daraufunangefochten als Sieger durchs Ziel.Das Rufen der Menge war mehr Enttäuschung als Jubel. Nebensich hörte Timm sagen: „Eines der verrücktesten Rennen, die icherlebt habe!“Auf der großen Gewinntafel erschien der Name „Südwind“ ganzoben. Timm war erleichtert. Wie gern hätte er jetzt gelacht.
Aberstatt dessen nahm er nur stumm den Wettabschnitt aus der Tasche,gab ihn der Stiefmutter und sagte: „Wir haben gewonnen! Bitte, holedu das Geld!“Frau Thaler stürzte in Erwins Begleitung zu den Schaltern. Timmfuhr, ohne auf die beiden zu warten, mit der Straßenbahn heim, holteaus der Standuhr den Vertrag und das ersparte Geld, steckte das eineins Mützenfutter, das andere in die Brusttasche seines Mantels undwollte eben mit dem Mantel über dem Arm die Wohnung verlassen,als er die Stiefmutter und Erwin kommen hörte. Schnell trat er hinterden Vorhang der kleinen Besenkammer.Er horte die Stiefmutter seinen Namen rufen.
Aber er verhielt sichstill.„Womagderjungebloßsein?“hörteerdann.„Eristsokomischinderletztenzeit.“ im Innern der Wohnung verlorensich die Stimmen. Er hörte Erwin noch fragen: „Sind wir jetzt sehrreich?“ Und die schrille Stimme der Stiefmutter sagte etwas wie„…undvierzigtausend!“„Nun“, dachte Timm ganz kühl und ruhig. „Dann brauchen diebeiden mich sicher nicht mehr.“Er verließ die Besenkammer, öffnete und schloß die Wohnungstürso leise wie möglich, ging hart unter den Fenstern vorbei zum Parkhinüber und rannte dann, so schnell ihn die Beine trugen, zumFriedhof im Osten der Stadt.Erst als der dicke schnauzbärtige Friedhofswärter ihn am Eingangnach der Grabnummer fragte, wurde ihm klar, daß er wegen desMarmorgrabsteins für seinen Vater hier wohl an der falschen Stellesei.
Immerhin wollte er einen Versuch machen. Er fragte: „Kann ichbei Ihnen einen Marmorgrabstein bestellen?“„Marmor ist bei uns nicht zugelassen. Zugelassen ist Sandstein“,brummte der Schnauzbart. „Außerdem bist du bei mir an derfalschen Adresse. Aber der Steinmetz hat sonntags geschlossen.“Plötzlich kam Timm ein verwegener Gedanke.„Wollen wir wetten, daß mein Vater einen Marmorgrabstein hat?Darauf steht in Goldbuchstaben: Von deinem Sohn Timm, der dichnie vergißt.“„Die Wette hast du verloren, bevor du sie abgeschlossen hast,Junge.“„Ich wette trotzdem! Um eine Tafel Schokolade!“ (Timm hatteauf dem Fenstersims der Portierloge eine Tafel Schokoladeentdeckt.)„Kannst du denn eine Tafel Schokolade bezahlen, wenn duverlierst?“Timm zog seine Geldscheine aus der Manteltasche und zeigte sie.„Wetten Sie jetzt?“„Die verrückteste Wette, die ich jemals abgeschlossen habe“,murmelte der Friedhofswärter.
„Also meinetwegen!“ Sie besiegeltendie Wette durch Handschlag und wanderten durch den riesigenparkähnlichen Friedhof ans Grab des Herrn Thaler.Schon von weitem sahen sie drei Männer in Arbeitskleidung aufdem Grab. Der dicke Friedhofswärter beschleunigte den Schritt.„Das ist doch…“ Er schnaufte wie ein Walroß und rannte jetztfast.Auf das Grab war gerade ein frischer Stein gesetzt worden.
AusMarmor. Der Stein trug in Goldschrift Namen und Lebensdaten desVaters. Und darunter stand: „Von deinem Sohn Timm, der dich nievergißt“.Die Arbeiter kümmerten sich wenig um das Geschrei desFriedhofswärters. Sie zeigten ihm einige Papiere, die bewiesen, daßdieser Stein vollkommen zu Recht aufgestellt worden war. Es lagsogar eine Sondergenehmigung dafür vor, einen Marmorstein zusetzen.