Drei-Maenner im Schnee E.Kaestner (549574), страница 11
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Draußen schien die Sonne. Sie drang wärmend in die erstarrte Kammer. Herr Geheimrat Tobler zog den alten Mantel aus, stellte sich auf den Stuhl, steckte den Kopf durchs Fenster und nahm ein Sonnenbad. Die Nähe und der Horizont waren mit eisig glänzenden Berggipfeln und rosa schimmernden Felsschroffen angefüllt.
Schließlich stieg er wieder vom Stuhl herunter, wusch und rasierte sich, zog den violetten Anzug an, umgürtete die langen Hosenbeine mit einem Paar Wickelgamaschen, das aus dem Weltkrieg stammte, und ging in den Frühstückssaal hinunter.
Hier traf er Hagedorn. Sie begrüßten einander aufs herzlichste. Und der junge Mann sagte: »Herr Kesselhuth ist schon auf der Skiwiese.« Dann frühstückten sie gründlich.
Durch die großen Fenster blickte man in den Park. Die Bäume und Büsche sahen aus, als ob auf ihren Zweigen Schnee blühe, genau wie Blumen blühen. Darüber erhoben sich die Kämme und Gipfel der winterlichen Alpen. Und über allem, hoch oben, strahlte wolkenloser, tiefblauer Himmel.
»Es ist so schön, daß man aus der Haut fahren könnte!« sagte Hagedorn. »Was unternehmen wir heute?«
»Wir gehen spazieren«, meinte Schulze. »Es ist vollkommen gleichgültig wohin.« Er breitete sehnsüchtig die Arme aus. Die zu kurzen Ärmel rutschten vor Schreck bis an die Ellbogen. Dann sagte er: »Ich warne Sie nur vor einem: Wagen Sie es nicht, mir unterwegs mitzuteilen, wie die einzelnen Berge heißen!«
Hagedorn lachte. »Keine Bange, Schulze! Mir geht's wie Ihnen. Man soll die Schönheit nicht duzen!«
»Die Frauen ausgenommen«, erklärte Schulze aufs entschiedenste.
»Wie Sie wünschen!« sagte der junge Mann. Dann bat er einen der Kellner, er möge ihm doch aus der Küche einen großen leeren Marmeladeneimer besorgen. Der Kellner führte den merkwürdigen Auftrag aus, und die beiden Preisträger brachen auf.
Onkel Polter überlief eine Gänsehaut, als er Schulzes Wickelgamaschen erblickte. Auch über Hagedorns Marmeladeneimer konnte er sich nicht freuen. Es sah aus, als ob zwei erwachsene Männer fortgingen, um im Sand zu spielen.
Sie traten aus dem Hotel. »Kasimir ist über Nacht noch schöner geworden!« rief Hagedorn
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begeistert aus, lief zu dem Schneemann hinüber, stellte sich auf die Zehenspitzen und stülpte ihm den goldgelben Eimer aufs Haupt. Dann übte er, schmerzverzogenen Gesichts, Schulterrollen und sagte: »Dieser Stünzner hat mich völlig zugrunde gerichtet!«
»Welcher Stünzner?« fragte Schulze.
»Der Masseur Stünzner«, erklärte Hagedorn. »Ich komme mir vor, als hätte man mich durch eine Wringmaschine gedreht. So ähnlich muß sich Prokrustes gefühlt haben. Und das soll gesund sein? Das ist vorsätzliche Körperverletzung!«
»Es ist trotzdem gesund«, behauptete Schulze.
»Wenn er übermorgen wiederkommt«, sagte Hagedorn, »schicke ich ihn in Ihre Rumpelkammer. Soll er sich bei Ihnen austoben!«
Da öffnete sich die Hoteltür, und Onkel Folter stapfte durch den Schnee. »Hier ist ein Brief, Herr Doktor. Und in dem anderen Kuvert sind ein paar ausländische Briefmarken.«
»Danke schön«, sagte der junge Mann. »Oh, ein Brief von meiner Mutter! Wie gefällt Ihnen übrigens Kasimir?«
»Darüber möchte ich mich lieber nicht äußern«, erwiderte der Portier.
»Erlauben Sie mal!« rief der junge Mann. »Kasimir gilt unter Fachleuten für den schönsten Schneemann zu Wasser und zu Lande!«
»Ach so«, sagte Onkel Polter. »Ich dachte, Kasimir sei der Vorname von Herrn Schulze.« Er verbeugte sich leicht und ging zur Hoteltür zurück. Dort drehte er sich noch einmal um. »Von Schneemännern verstehe ich nichts.«
Sie folgten einem Weg, der über verschneites, freies Gelände führte. Später kamen Sie in einen Tannenwald und mußten steigen. Die Bäume waren uralt und riesengroß. Manchmal löste sich die schwere Schneelast von einem der Zweige und stäubte in dichten weißen Wolken auf die zwei Männer herab, die schweigend durch die märchenhafte Stille spazierten. Der Sonnenschein, der streifig über dem Bergpfad schwebte, sah aus, als habe ihn eine gütige Fee gekämmt.
Als sie einer Bank begegneten, machten sie halt. Der Schnee lag auf ihr wie ein hohes Daunenkissen. Hagedorn schob den Schnee beiseite, und sie setzten sich. Ein schwarzes Eichhörnchen lief eilig über den Weg.
Nach einer Weile erhoben sie sich wortlos und gingen weiter. Der Wald war zu Ende. Sie gerieten auf freies Feld. Ihr Pfad schien im Himmel zu münden. In Wirklichkeit bog er rechts ab und führte zu einem baumlosen Hügel, auf dem sich zwei schwarze Punkte bewegten.
Hagedorn sagte: »Ich bin glücklich! Bis weit über die Grenzen des Erlaubten!« Er schüttelte befremdet den Kopf. »Wenn man's so bedenkt: Vorgestern noch in Berlin. Seit Jahren ohne Arbeit. Und in vierzehn Tagen wieder in Berlin ...«
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»Glücklichsein ist keine Schande«, sagte Schulze, »sondern eine Seltenheit.«
Plötzlich entfernte sich der eine der schwarzen Punkte von dem anderen. Der Abstand wuchs.
Der Punkt wuchs auch. Es war ein Skifahrer. Er kam mit unheimlicher Geschwindigkeit näher und hielt sich mit Mühe aufrecht.
»Da gehen jemandem die Schneeschuhe durch«, meinte Hagedorn.
Ungefähr zwanzig Meter von ihnen tat der Skifahrer einen marionettenhaften Sprung, stürzte kopfüber in eine Schneewehe und war verschwunden.
»Spielen wir ein bißchen Feuerwehr!« rief Schulze. Dann liefen sie querfeldein, versanken wiederholt bis an die Hüften im Schnee und halfen einander, so gut es ging, vorwärts.
Endlich erblickten sie ein Paar zappelnde Beine und ein Paar Skibretter und zogen und zerrten an dem fremden Herrn, bis er, dem Schneemann Kasimir nicht unähnlich, zum Vorschein kam. Er hustete und prustete, spuckte pfundweise Schnee aus und sagte dann tieftraurig: »Guten Morgen, meine Herren.« Es war Johann Kesselhuth.
Herr Schulze lachte Tränen. Doktor Hagedorn klopfte den Schnee vom Anzug des Verunglückten. Und Kesselhuth befühlte mißtrauisch seine Gliedmaßen. »Ich bin anscheinend noch ganz«, meinte er dann.
»Weshalb sind Sie denn in diesem Tempo den Hang heruntergefahren?« fragte Schulze. Kesselhuth sagte ärgerlich: »Die Bretter sind gefahren. Ich doch nicht!«
Nun kam auch der Graswander Toni angesaust. Er fuhr einen eleganten Bogen und blieb mit einem Ruck stehen. »Aber, mein Herr!« rief er. »Schußfahren kommt doch erst in der fünften Stunde dran!«
Nach dem Mittagessen gingen die drei Männer auf die Hotelterrasse hinaus, legten sich in bequeme Liegestühle, schlössen die Augen und rauchten Zigarren. Die Sonne brannte heißer als im Sommer. »In ein paar Tagen werden wir wie die Neger aussehen«, meinte Schulze. »Braune Gesichtsfarbe tut Wunder. Man blickt in den Spiegel und ist gesund.«
Die anderen nickten zustimmend.
Nach einiger Zeit sagte Hagedorn: »Wissen Sie, wann meine Mutter den Brief geschrieben hat, der heute ankam? Während ich in Berlin beim Fleischer war, um Wurst für die Reise zu holen.« »Wozu diese Überstürzung?« fragte Kesselhuth verständnislos.
»Damit ich bereits am ersten Tage Post von ihr hätte!«
»Aha!« sagte Schulze. »Ein sehr schöner Einfall.«
Die Sonne brannte. Die Zigarren brannten nicht mehr. Die drei Männer schliefen. Herr Kesselhuth träumte vom Skifahren. Der Graswander Toni stand auf dem einen Turm der Münchner Frauenkirche. Und er, Kesselhuth, stand auf dem andern Turm.
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»Und jetzt eine kleine Schußfahrt«, sagte der Toni. »Über das Kirchendach, bitte schön. Und dann, mit einem stilreinen Sprung, in die Brienner Straße. Vorm Hofgarten, beim Annast, machen S' einen Stemmbogen und warten auf mich.«
»Ich fahre nicht«, erklärte Kesselhuth. »Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen!« Hierbei fiel ihm ein, daß er träumte! Da wurde er mutig und sagte zum Toni: »Rutschen Sie mir in stilreinen Stemmbögen den Buckel runter!« Anschließend lächelte er im Schlaf.
Das zehnte Kapitel
Herrn Kesselhuths Aufregungen
Als Hagedorn erwachte, waren Schulze und Kesselhuth verschwunden. Aber an einem der kleinen Tische, nicht weit von ihm, saß Frau von Mallebre und trank Kaffee.
»Ich habe Sie beobachtet, Herr Doktor«, sagte sie. »Sie haben Talent zum Schlafen!«
»Das will ich meinen!« gab er stolz zur Antwort. »Habe ich geschnarcht?«
Sie verneinte und lud ihn zu einer Tasse Kaffee ein. Er setzte sich zu ihr. Sie sprachen zunächst über das Hotel und die Alpen und über das Reisen. Dann sagte sie: »Ich habe das Gefühl, mich bei Ihnen entschuldigen zu müssen, daß ich eine so oberflächliche Frau bin. Ja, ja, ich bin oberflächlich. Es stimmt leider. Aber ich war nicht immer so. Mein Wesen wird jeweils von dem Manne bestimmt, mit dem ich zusammenlebe. Das ist bei vielen Frauen so. Wir passen uns an. Mein erster Mann war Biologe. Damals war ich sehr gebildet. Mein zweiter Mann war Rennfahrer, und in diesen zwei Jahren habe ich mich nur für Autos interessiert. Ich glaube, wenn ich mich in einen Turner verliebte, würde ich die Riesenwelle können.«
»Hoffentlich heiraten sie niemals einen Feuerschlucker«, meinte Hagedorn. »Überdies soll es Männer geben, denen das Anpassungsbedürfnis der Frau auf die Nerven geht.«
»Es gibt überhaupt nur solche Männer«, sagte sie. »Aber ein, zwei Jahre lang findet es jeder reizend.« Sie machte eine Kunstpause. Dann fuhr sie fort: »Ich habe große Angst, daß meine Oberflächlichkeit chronisch wird. Aber ohne fremde Hilfe finde ich nicht heraus.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie mich für einen besonders energischen und wertvollen Menschen. «
»Sie verstehen mich richtig«, erwiderte sie und sah ihn zärtlich an.
»Ihre Ansicht ehrt mich«, sagte er. »Aber ich bin doch schließlich kein Gesundbeter, gnädige Frau!«
»Das ist falsch ausgedrückt«, meinte sie leise. »Ich will doch nicht mit Ihnen beten!«
Er stand auf. »Ich muß leider fort und meine Bekannten suchen. Wir werden das Gespräch ein andermal fortsetzen.«
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Sie gab ihm die Hand. Ihre Augen blickten verschleiert. »Schade, daß Sie schon gehen, lieber Doktor. Ich habe sehr großes Vertrauen zu Ihnen.«
Er machte sich aus dem Staube und suchte Schulze, um sich auszuweinen. Er suchte Schulze, fand aber Kesselhuth. Dieser sagte: »Vielleicht ist er in seinem Zimmer.« Sie begaben sich also ins fünfte Stockwerk. Sie klopften. Weil niemand antwortete, drückte Hagedorn auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Sie traten ein. Das Zimmer war leer.
»Wer wohnt hier?« fragte Kesselhuth.
»Schulze«, antwortete der junge Mann. »Das heißt, von Wohnen kann natürlich gar keine Rede sein. Es ist seine Schlafstelle. Er kommt am späten Abend, zieht seinen Mantel an, setzt die rote Pudelmütze auf und legt sich ins Bett.«
Herr Kesselhuth schwieg. Er konnte es nicht fassen.
»Na, gehen wir wieder!« meinte Hagedorn.
»Ich komme nach«, sagte der andere. »Das Zimmer interessiert mich.«
Als der junge Mann gegangen war, begann Herr Kesselhuth aufzuräumen. Der Spankorb stand aufgeklappt auf dem Fußboden. Die Wäsche war durchgewühlt. Der Mantel lag auf dem Bett. Schlipse, Röllchen und Socken häuften sich auf dem Tisch. Im Krug und im Waschbecken war kein frisches Wasser. Johann hatte Tränen in den Augen.
Nach zwanzig Minuten war Ordnung! Der Diener holte aus seinem eleganten Jackett ein Etui hervor und legte drei Zigarren und eine Schachtel Streichhölzer auf den Tisch.
Dann eilte er treppab, durchstöberte seine Koffer und Schränke und kehrte, über die Dienstbotentreppe schleichend, in die Dachkammer zurück. Er brachte ein Frottierhandtuch, einen Aschenbecher, eine Kamelhaardecke, eine Vase mit Tannengrün, eine Gummiwärmflasche und drei Äpfel angeschleppt. Nachdem er die verschiedenen Gaben aufgestellt und hingelegt hatte, blickte er sich noch einmal prüfend um, notierte einiges in seinem Notizbuch und ging, wieder über die Hintertreppe, in sein vornehm eingerichtetes Zimmer zurück.
Er war niemandem begegnet.
Hagedorn, der im Schreibsalon, im Spielzimmer, in der Bar, in der Bibliothek und sogar auf der Kegelbahn gesucht hatte, wußte sich keinen Rat mehr. Das Hotel lag wie ausgestorben. Die Gäste waren noch in den Bergen.
Er ging in die Halle und fragte den Portier, ob er eine Ahnung habe, wo Herr Schulze stecke.
»Er ist auf der Eisbahn, Herr Doktor«, sagte Onkel Folter. »Hinterm Haus.«
Der junge Mann verließ das Hotel. Die Sonne ging unter. Es schimmerten nur noch die höchsten Gipfel. — Die Eisbahn befand sich auf dem Tennisgelände. Aber es lief niemand Schlittschuh. Die Eisfläche war hoch mit Schnee bedeckt. Am anderen Ende der Bahn schippten zwei Männer.
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Hagedorn hörte sie reden und lachen. Er ging an dem hohen Drahtgitter entlang, um den Platz herum. Als er nahe genug war, rief er: »Entschuldigen Sie, haben Sie einen großen älteren Herrn gesehen, der Schlittschuh laufen wollte?«
Einer der beiden Arbeiter rief laut zurück: »Jawohl, mein Lieber! Der große ältere Herr schippt Schnee!«
»Schulze?« fragte Hagedorn. »Sind Sie's wirklich? Ihnen ist wohl die Sicherung durchgebrannt?«